Über die Arbeit mit einem Autisten

Farid - Ein einfacher Name. Aber kein einfaches Kind.

Wie ihr alle es mittlerweile mitbekommen habt, sind Natha und ich momentan auf Reisen. Der Blogeintrag wurde Mitte Dezember geschrieben; lasst euch also nicht über die Zeitangaben iritieren. Viel Spaß beim Lesen!


Tu hijo? Tu hermano? Tu novio? Tu esposo? Ist das dein Sohn? Oder ist das dein Bruder? Vielleicht aber auch dein Freund? Oder sogar doch dein Ehemann? Aber damit ihr alle diese Fragen versteht, muss ich von Vorne anfangen. Vorneweg aber möchte ich euch aber schon mal die Antwort auf die Fragen geben: Nein. Es handelt sich um einen Amigo. Es handelt sich um meinen kleinen Bro Farid!

 

Seit unserem letzten Blogeintrag über die Arbeit hat sich bei mir, Lara, unfassbar viel verändert. Euer letzter Stand einmal stichwortartig zusammengefasst: Gruppe Rojo. 21 Kinder. Süße 2 bis 3 Jahre alt. Viel Knuddeln, Albern und Trösten. Englisch Gruppe Amarillo.

 

Der neue Stand sieht zusammengefasst so aus: Gruppe Azul, Englisch Azul, 30 Kinder, aufgeweckte 2 bis 7 Jahre alt, Viel Singen, Hinterherrennen und Kommunikation mit wenigen Worten. Farid.

 

Und genau Farid ist der Grund für diese vielen Veränderungen:

 

Vor circa 1,5 Monaten hat meine Chefin Schwester Cornelia mich kurz zur Seite genommen und die aktuelle Situation geschildert. Bei der aktuellen Situation handelte es sich darum, dass ab morgen ein neues Kind den Kindergarten besuchen sollte. Es handelt sich hierbei um Farid. Farid ist ein 7-jähiger bolivianischer Junge. Normalerweise besuchen nur Kinder bis zu einem Alter von 5 Jahren den Kindergarten. Aber warum kommt dann Farid dann in unseren Kindergarten? Hier ist die Antwort: Farid ist Autist. Und das ist auch die Antwort auf die große Veränderung bei mir auf der Arbeit!

 

Ich muss sagen, dass ich mit der Situation zu Beginn mehr als überfordert war. Von dem einen auf den anderen Tag wurde ich aus meinem gewohnten Arbeitsumfeld gerissen und steckte nun in einer völlig neuen Umgebung. Anstelle meiner süßen, eher ruhigen 21 Kinder, erwartete mich eine Horde von 30 Kindern. Ich schreibe bewusst Horde, da die Kinder deutlich aufgeweckter, aktiver und lauter sind. Und redseliger. Erneut galt es Namen zu lernen. Und erneut galt es sich auf 2 neue Educadoras (Erzieherinnen)einzulassen. Und natürlich nicht zu vergessen: Farid.

 

In meinem bisherigen Leben hatte ich noch nie mit geistig beeinträchtigen Menschen zu tun. Bis jetzt. Seit wie gesagt über 1 Monat arbeite ich nun täglich mit Farid zusammen. Auch damit war ich zu Beginn mehr als überfordert. Bewusst habe ich mich zu Beginn meines Freiwilligendienstes für die Arbeit mit Kinder entschieden. Ich liebe Kinder und deren unbesorgtes Lachen und die Tatsache, dass sie sich einfach für alles begeistern lassen können. Von der Arbeit mit behinderten Menschen war ich bis zu dieser Zeit immer ein wenig abgeschreckt. Die Menschen, die mit eingeschränkten Personen zusammenarbeiteten, bewunderte ich schon immer, aber ich persönlich war immer der Überzeugung, dass ich zu so etwas nicht in der Lage wäre. In einem Gespräch mit meiner besten Freundin über Gott und die Welt (oder eher über die Arbeit oder das Zusammenleben mit behinderten Menschen) fiel mal folgender Satz: „Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder in der Lage ist mit diesen Menschen zu arbeiten, wenn man erstmal in dieser Situation ist!“


Und genauso ist es auch. Ich wurde quasi ins kalte Wasser geschmissen. Aber es klappt. Von Tag zu Tag wird die Arbeit mit Farid besser und auch seine Familie hat Fortschritte in seiner bisherigen Entwicklung bemerkt.

 

Seit seiner Kindheit ist Farid ein Autist. Unter Autismus versteht man eine unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung. Farid weist so Schwächen in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation auf: Ihm fällt es schwer Mimik und Körpersprache einzusetzen. Blickkontakt ist eher selten und wenn dann sehr flüchtig. Einen Blickkontakt zu halten ist für Farid eigentlich unmöglich. Farids gesprochene Sprache ist sehr schwach ausgeprägt. So vermag er nur wenige Worte sagen. Diese sind etwa an 2 Händen abzuzählen. Er kann sowohl Menschen begrüßen und verabschieden, seine Freude zum Ausdruck bringen und das Bedürfnis äußern, sich erleichtern zu müssen. Dies klappt eigentlich immer. Okay, fast immer – aber dazu später mehr. Auch schwer an der Zusammenarbeit mit Farid ist, dass er nicht nur wenig spricht, sondern auch, dass er nicht so viele Worte versteht. So ist es noch immer so, dass man Farid anspricht oder ihn ruft und er gar nicht reagiert. Teilweise ist es so, als wenn man mit einer Wand spricht. Mittlerweile habe ich jedoch herausgefunden was ich wann sagen muss, dass Farid zum Beispiel nicht in eine für ihn verbotene Zone geht oder das Material der anderen Kinder zerstört. In dieser kurzen Zeit habe ich festgestellt, dass Kommunikation nicht nur durch Sprache funktionieren kann. So arbeite ich verstärkt mit Gestik und auch mit der Artikulation und der Lautstärke der Worte. Hat Farid so zum Beispiel etwas „Böses“ getan, so hebe ich meine Stimme an und schüttele gleichzeitig dazu den Finger. Klappt zwar nicht immer, aber immer öfters.

 

Seine Mama hat berichtet, dass er seit diesem Monat hier bei uns im Kindergarten ein paar neue Worte dazu gelernt hat und generell ruhiger und umgänglicher ist. Ein unfassbar großes Lob für die Educadoras und für mich!

 

Typisch für einen Autisten fällt es Farid unfassbar schwer still zu sitzen. Warten ist eine Qual für ihn. So war es zu Beginn schon eine Leistung, wenn Farid nur 2 Minuten auf einem Stuhl sitzen musste. Er musste ständig in Bewegung sein und hat seine neue Umgebung erkundet. Zu meinem Leid hatte er Vergnügen daran Materialien wie zum Beispiel Kugeln auszukippen und diese zu beobachten. Leider nicht nur ein Material sondern mehrere. Dies liegt daran, dass Farid alles liebt, was sich bewegt und Geräusche von sich gibt. Mittlerweile hat sich Farid diese schlechte Angewohnheit zum Glück abgewohnt. Verspürt er den Drang nach ein wenig Ruhe so legt er sich in ein für ihn zurecht gestelltes Bett oder wir gehen in den Garten.


Aber damit ihr euch besser in meine Arbeit mit Farid hineinversetzen könnt, schildere ich euch einfach einige Momente mit Farid:

Trotz der Regenzeit haben wir heute einen warmen Tag erwischt. Einen sehr warmen Tag. Farid trägt geschlossene Schuhe, ein langärmliges Hemd und eine dicke Cordhose. Eindeutig zu warm gekleidet für dieses Wetter. Farid liegt auf seiner Matratze in einer Ecke eines Raumes und lauscht Musik, die aus einem Babyspielzeug kommt. Mein kleiner Amigo liebt nämlich Musik. Hört er Musik, so ist er gleich viel ruhiger und umgänglicher. Dennoch ist Farid im Moment nicht ruhig. Ihm ist zu warm. Die ersten Schweißperlen bilden sich bereit auf seiner Stirn. Farid erkennt sein Problem: Ihm ist warm. Und dieses Problem kann man ja ganz einfach lösen indem man sich auszieht. Er streift sich also seine Schuhe ab. Es folgen die Socken. Danach die Hose. Und seine Unterhose. Nackt liegt er so auf seiner Matratze mitten im Arbeitsraum der anderen Kinder. Die Kinder schauen Farid verwundert an; sie verstehen nicht, wieso er nackt daliegt. Farid jedoch ist glücklich. Er hat sein Problem gelöst. Jedoch haben wir Educadoras jetzt ein Problem. Alle Kinder in diesem Raum sind angezogen und Farid darf da keine Ausnahme bilden. Es heißt jetzt also für uns, ihn wieder vollständig zu bekleiden. Farid jedoch versteht das nicht. Ihm ist warm und er sträubt sich stark seine Hose wieder anzuziehen. Egal was wir sagen oder mit Gesten darstellen: er versteht es nicht. Seinen Widerstand drückt er durch Geschrei aus. Mit Geschrei meine ich auch wirklich Geschrei. Er schreit den kompletten Kindergarten zusammen. Mehr als 10 Minuten. Dafür braucht man echt Geduld. Und starke Nerven. Nach circa einer Viertelstunde ist der „Kampf“ dann jedoch zum Glück gewonnen. Farid hat seine Hose wieder an. Wir Educadores sind glücklich. Farid nicht – er versteht die Welt nicht.


Farid und ich sind in der Cancha. Die Cancha ist unsere Sporthalle. Hier verbringen wir täglich Zeit und „powern uns aus“, wie es meine Chefin immer so schön beschreibt. Entweder spielen wir ein wenig Fußball oder fahren mit dem Bobbycar. Während dieser Zeit ist Farid oft sehr glücklich. Er lacht und sieht ziemlich glücklich aus. Während er mit dem Bobbycar durch die Sporthalle düst, sitze ich auf der Bank und betrachte ihn still. Er hat eindeutig Spaß. Nach kurzer Zeit hält Farid an. Er steigt vom Bobbycar und läuft auf mich zu. Er nimmt meine Hand und zieht mich mit sich. So läuft unsere Kommunikation ab. Möchte Farid mir etwas zeigen oder er benötigt meine Hilfe, so nimmt er mich schweigend an die Hand und zeigt mir, was er möchte.
Wir sind nun beim Bobbycar angekommen. Farid zieht mit seiner Hand meine Hand nach unten und gibt einige Geräusche von sich. Damit möchte er mir verdeutlichen, dass ich mich auf das Bobbycar setzen soll. Ich komme seinen Wunsch nach und setze mich auf das Gefährt. Für Außenstehende muss das ziemlich witzig aussehen, da das Bobbycar für bolivianische Kinder ausgelegt ist und nicht für große Deutsche. Aber egal. Farid legt mir seine Hände auf die Schultern und dann beginnt der Spaß: So schiebt er mich durch die komplette Turnhalle. Und das mehrfach. Zwischendurch bleibt Farid stehen und beobachtet mich fasziniert. Er ist glücklich. Das wird dadurch deutlich, dass er in die Hände klatscht und Muy bien! ruft. So bringt er seine Freude zum Ausdruck. Ein wirklich schöner Moment!
Farid steht nun in der Mitte der Cancha und sagt eines seiner ihm bekannten Worte: Pis. Das bedeutet, dass Farid auf die Toilette möchte. Ich springe von meinem Bobbycar auf uns eile zu ihm, sodass wir schnellstmöglich zur Toilette gehen können. Doch leider zu spät. Farid hat in dieser kurzen Zeit nämlich schon sein bestes Stück ausgepackt und stellt einen Springbrunnen dar. Nach wenigen Sekunden packt er sein bestes Stück wieder ein. Er freut sich erneut, klatscht in die Hände und ruft Muy bien! In diesem Moment weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll.


Die Sonne scheint und Farid und ich sitzen im Garten der Schwestern. Auch hier verbringen wir täglich einen Teil unserer Zeit. Mit der Ausnahme von dem Gezwitscher einiger Vögel ist es ruhig. Und genau diese Ruhe genießen Farid und ich. In dem Arbeitsraum ist Farid nämlich öfters überfordert. 30 arbeitende und teilweise ziemlich laute Kinder sind für einen Autisten eine ziemliche Überforderung. Deshalb flüchten wir von Zeit zu Zeit in den Garten. Gerade sitzen wir in einem Gartenstuhl in der Sonne. Kurz zuvor saßen wir auf dem Boden und haben mit einem Auto gespielt oder wir sind durch den Garten marschiert. Dazu ist zu sagen, dass hier in Bolivien sehr viel marschiert wird. Sei es bei Demonstrationen oder bei Volksfesten – es wird sehr viel marschiert. Farid nimmt dann meine Hand und mit Tschtschtsch Lauten laufen wir den Garten entlang oder machen den Kindergarten unsicher. Am Anfang habe ich mich dabei zunächst nicht so wohl gefühlt, weil wir von allen Kinder skeptisch beobachtet wurden. Sieht glaube ich aber auch ziemlich eigenartig aus, wenn wir beide entweder Hand in Hand oder in einer Reihe durch den Kindergarten marschieren. Aber mittlerweile ist mir das mehr als egal. So kennt jetzt auch hier jeder meine Arien-Opern-Künste. Farid und ich singen nämlich gerne zusammen. Farid liebt wie gesagt nämlich Musik und den Klang von Lauten. Aufgrund seines schwach ausgeprägten Wortschatzes ist er jedoch nicht in der Lage ein richtiges Lied zu singen. Stattdessen summt er die Melodie vor sich her oder wir singen unsere Opern mit Lalalalalala oder Tadadadada Lauten.
Farid greift erneut meine Hand und legt sie sich auf den Rücken. Das ist das Zeichen dafür, dass er gekrault werden möchte. Bereitwillig fahre ich also seinen Rücken lang. Höre ich jedoch nach wenigen Sekunden damit auf werde ich durch einen kleinen Handstoß daran erinnert doch bitte weiter zu machen. Weigere ich mich jedoch dagegen, so bekomme als Bestechung ein Küsschen auf die Wange gedrückt. Wer kann da dann schon Nein sagen?!


Am Anfang war die Arbeit für mich mit Farid mehr als schwer. Ich war einfach mit der kompletten Situation überfordert und mehr als gestresst. Doch es wurde von Tag zu Tag besser und mittlerweile macht mir die Arbeit mit ihm unfassbar viel Spaß und ist iwie total erfüllend. So ist es unvorstellbar schön Farid Lachen zu sehen oder mit ihm im Garten zu singen. Immer öfter vergesse ich so die Tatsache, dass Farid ein Autist ist. Ich habe in dieser kurzen Zeit nicht nur gelernt mit Farid umzugehen, sondern ich selbst habe auch vieles dazugelernt. Total schön!

„Die kleinsten Dinge nehmen oft den größten Platz in unserem Herzen ein!“

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